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Alte, neue Geschichten zu Opfern und Tätern: Boris Palmer

24 Septembre 2023 , Rédigé par Madeleine Staeheli Toualbia

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer erklärt in einem Interview mit der «Zeit» («Da ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt», Nr. 39, 2023/9/14), warum er Ende April bei einer Veranstaltung an der Universität Frankfurt, bei der er als Redner auftrat, ein rassistisches Wort verwendete. Nach diesem Aussetzer zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück. 

Die Erklärungen, die zu rassistischem Vokabular keine sein können, wirken plausibel, einleuchtend, menschlich. Er wurde davor als Rassist beschimpft, von augenscheinlich ignoranten Provokateuren. Daraus kann in unserem Verständnis Übles entstehen, doch ließ er sich, so seine Angabe, entgegen der möglichen Annahme, gar nicht eigentlich provozieren. Er stellte jedoch fest, dass die Provokation auf Unterwerfung zielte, das war der unannehmbare Punkt.

Nichtsdestotrotz ließ er sich coachen, wie man in solchen Situationen Selbstbeherrschung zeigen kann, doch damit ist noch nicht alles zu einem ganzen Kontext gesagt, in dem Boris Palmer zuerst dachte, er könne mit der Information, dass die Gräber seiner jüdischen Vorfahren in den 90er-Jahren von Neonazis geschändet worden waren, den Wind aus den Segeln nehmen, doch auf dieser Ebene ließ sich nicht diskutieren, die Botschaft kam nicht an. 

Der beinahe obligate Satz, er wolle kein Opfer sein, fällt - und er ist es nicht. Bei allen Beschreibungen, dazu auch, dass er als Kind aufgrund seiner jüdischen Vorfahren rassistisch beschimpft worden war: Die Debatte muss stets sachlich geführt werden und sie wird es. zumindest von seiner Seite. Das stärkste Argument zählt. Keine Auseinandersetzungen aufgrund des Vergleichs des Grades von gefühlten Verletzungen. Weder Opfer noch Täter: Hier sei, im Kontext, eine Assoziation zur langen Geschichte  von Selbst- und Fremddefinition in der jüdischen Diaspora und antisemitischen Haltungen erlaubt, auch deshalb, weil jüdische Mitbürger im Dritten Reich wohl unbestreitbar zu Opfern gemacht wurden. 

Was tun, wenn Dinge, die als unumstößlich gelten wie die Haltung, dass Mitbürger mit jùdischen Vorfahren in Deutschland keine Rassisten sein können oder dürfen, plötzlich wieder mit jahrhundertealten Unterstellungen konfrontiert werden, wie der Umkehrung der Opfer- und Täterolle?

Boris Palmer beruft sich auf sachlichen Diskurs, und der ist seit Ende des Dritten Reiches ein anderer. Das könnte gelingen.

 

P.S. Die Artikel zu Hubert Aiwanger, dem stellvertretenden bayrischen Ministerpräsidenten, sind im Kontext auch aufschlussreich, da man sich mit seinen offenbar nazifreundlichen Entgleisungen in seiner Jugend beschäftigt - und ihm verzeiht. 

 

 

 

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