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Zeiten des Banns

11 Août 2020 , Rédigé par Madeleine Staeheli Toualbia Publié dans #clip mensuel

Unterschiede in der Gesellschaft sollten, wenn sie existieren, nur quantitativ und keinesfalls in der Art unterschiedlich sein. Die armen Klassen mittels Entwicklung zu eliminieren, beispielsweise, ist ein demokratisch-kapitalistisches Projekt (nach Agamben, Giorgio. 2016. Homo sacer, Frankfurt am Main, S. 189). Aristoteles hat «die einfache Tatsache des Lebens gegen das politisch qualifizierte Leben» abgegrenzt und nach Agamben diejenigen verspottet, die glaubten, es handle sich um einen quantitativen Unterschied und nicht um einen in der Art (da in der antiken Welt das einfache natürliche Leben aus der pólis ausgeschlossen ist und als rein reproduktives Leben gesehen wird). Das «entscheidende Ereignis der Moderne» ist «das Eintreten der zōé in die Sphäre der pólis, die Politisierung des nackten Lebens» (Agamben, S.14). Daraus kann ein Ausnahmezustand entstehen, als eine «Ununterscheidbarkeit zwischen aussen und innen» (Agamben. S. 192), als Folge der Definition der Zugehörigkeit zur pólis durch den Souverän, der das nackte Leben einschliesst und es gleichzeitig ausschliessen kann (Bann). Agamben bezeichnet die «fundamentale Leistung der souveränen Macht» als «Produktion des nackten Lebens als ursprüngliches politisches Element» (Agamben, S. 190), da der Souverän die Verbindung zwischen zōé und bíos, zwischen dem Naturzustand und einer geführten Lebensweise, darstellt. Der Bann oder die Verbannung beziehungsweise Einschluss-Ausschluss ist dabei nicht für bestimmte Personen oder Gruppen vorgesehen, sondern die grundlegende Differenz, auf Grundlage derer sich alles dem Souverän zugerechnete Leben konstituiert, laut Agamben das «politische Paradigma des Abendlandes» (S. 190). Agamben nennt das Lager und nicht den Staat als das Paradigma, zumal der Staat die pólis verkörpert, in der objektives Recht angewendet wird, während das Lager als «stabile, räumliche Einrichtung» einen ursprünglich zeitlich begrenzten Ausnahmezustand verkörpert, der zu einem Dauerzustand geworden ist, und nur noch, wenn, dann Teil des Territoriums ist, nicht aber der Rechtsordnung (als die beiden Begriffe fùr den modernen Nationalstaat). Dabei besteht die ursprüngliche Absicht fùr Lager unter Umständen darin, das nackte Leben, das mittels Lager ausgeschlossen wird, (wieder) in die Rechtsordnung zu überführen. Das Lager ist jedoch nicht die Reproduzierung des Prozesses der Staatsbildung, sondern «eine das System überschreitende entortende Verortung» (Agamben, S. 185). Es ist der Ort, an dem verborgene Mechanismen wirken, die die Grundlage des Rechtsverständnisses der souveränen Macht bilden, und daher auch ein Raum, «(…) in dem es nicht vom Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeiten begangen werden, sondern von der Zivilität und dem ethischen Sinn der Polizei, die da vorübergehend als Souverän agiert» (S. 183-184). Das nackte Leben ist daher sowohl das der die Polizei als auch das der Lagerinsassen, die beide nicht mehr der Rechtsordnung folgen oder unterstehen. Die Absonderung beziehungsweise Unterwerfung unter oder das Einschreiben in die Ordnung des einen ist die unmittelbare Produktion des andern (nach Agamben, S. 183). 

 

Dieses Problem der Souveränität, die an den Naturzustand gebunden bleibt, aus dem sie sich erst konstituiert, kann nach Agamben durch Übereinstimmung von zōé und bíos überwunden werden, doch ist ein solches Leben kaum vorstellbar, da es einem bestimmten Regelsystem folgen müsste, das das gesamte Leben durchdringt und verinnerlicht ist. Agamben nennt als Beispiel den flamen Dialis, einen der höchsten Priester im alten Rom (S. 191). Die Unterscheidung des physischen und politischen Körpers ist die Problemstellung des Volkes als Souverän, die in antiken Herrschern verkörpert war, im Sinne der Heiligkeit des Unsterblichen, des politischen Körpers. Der Führer im Nazionsozialismus ist ein Beispiel für einen «integralen», das heisst «weder privaten noch öffentlichen», Körper des Volkssouveräns. «Von den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik, im Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden» (S. 197). Die Bekämpfung von Covid-19 erscheint als Schnittpunkt von biologischem und politischem Körper, von zōé und bíos, von Biopolitik und Politik, was auch durch Aussagen transportiert wird, etwa in der Presse, es werde anschließend nichts mehr sein wie zuvor. Doch wie das politische Paradigma des Abendlandes auflösen, das das antike Verstãndnis von Politik nicht integriert hat, «ohne eine beispiellose biopolitische Katastrophe zu riskieren» (S. 197). Nach Agamben muss zuerst in dieser existenziellen Frage nach dem Sein das nackte Leben in der Moderne verstanden werden.

 

(Im Sinne der Solidarität in der Covid-19-Pandemie wird dieser clip mensuel kostenlos veröffentlicht (vgl. Text oben: Diese kostenlose Veröffentlichung ist ein möglicher Schnittpunkt von zōé und bíos).)

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